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Interview: Bahnen müssen sich noch mehr vernetzen

Der Autoverkehr im urbanisierten Raum hat ein Ablaufdatum. Die Alternative ist ein individualisierter öffentlicher Verkehr.

Neue Bahn sprach mit dem deutschen Sozialwissenschafter und Verkehrsexperten Professor Andreas Knie über Mobilität heute und morgen.

Neue Bahn: Herr Professor Knie, Sie sind Geschäftsführer der InnoZ GmbH und Bereichsleiter bei der Deutschen Bahn und gelten als profilierter Mobilitätsexperte. Wo steht heute Europa in Sachen Mobilität?
Andreas Knie: Zahlreiche europäische Staaten verfügen bereits heute über vielfältige Mobilitätsangebote und Verkehrsinfrastrukturen. Es kommt aber darauf an, besonders die öffentlichen Verkehrsangebote stärker als bisher zu vernetzen und „bunter“ zu machen. Nur so ist eine Mobilität möglich, die langfristig das ressourcenraubende Privatauto überwindet und jedem Nutzer „maßgeschneiderte“ Alternativen bietet. Einige europäische Metropolen wie Amsterdam, Kopenhagen, aber auch Berlin machen bereits vor, wie so etwas funktionieren kann. Ich denke dabei etwa an Carsharing mit Elektroautos und Fahrradverleihsysteme. Solche Angebote stehen in Verbindung mit einem leistungsstarken öffentlichen Nahverkehr sowie intelligenten Informations-, Buchungs- und Energiesystemen.

Nach Prognosen des Club of Rome werden bis zum Jahr 2050 80 Prozent der Weltbevölkerung in Städten leben. Ist das eine realistische Einschätzung und wie können die immer größeren Menschenmassen in den Städten überhaupt in geordnete Bahnen gelenkt werden?
Knie: Die Urbanisierung ist sicherlich ein zentrales Merkmal des 21. Jahrhunderts, besonders in Entwicklungs- und Schwellenländern. Damit die Stadtluft im sprichwörtlichen Sinne frei und nicht krank macht, muss sich jedoch das Verkehrssystem der Metropolregionen entsprechend anpassen. Massenhafter Individualverkehr mit Privatfahrzeugen ist angesichts begrenzten Raumes, steigender Kosten und zunehmender Umweltbelastung in Städten keine nachhaltige Lösung. Zugleich macht die Hoffnung auf persönlichen Entfaltungsspielraum gerade den Reiz von Städten aus. Soll dieses Versprechen auf mehr Lebensqualität und gleichzeitiges Wachstum eingelöst werden, ist es wichtig, flexible und ökologische Mobilitätssysteme zu schaffen.

Wie werden sich die Menschen in Zukunft in Europa fortbewegen?
Knie: Wie im globalen Maßstab, so befinden sich auch die europäischen Verkehrsmärkte auf unterschiedlichen Entwicklungsebenen. Aus steigenden Energiekosten, engeren Ressourcengrenzen und demografischen Veränderungen ergeben sich aber für viele Länder Fragen nach der Effizienz und Finanzierbarkeit öffentlicher Verkehrssysteme. Die Zukunft gehört hier dem unkomplizierten Check-in/Check-out, zum Beispiel über Mobilitätskarten oder Smartphones unter Einbezug einer breiten Angebotspalette inklusive Carsharing und Leihrädern. Die Nutzung von Privatfahrzeugen wird hingegen besonders in Städten teurer, aufwendiger und platzsparender werden. In einigen europäischen Städten wird der Privatverkehr ordnungsrechtlich bereits verstärkt reguliert, etwa mit der Londoner City-Maut. Alternativen zum Privat-Pkw sind in Sicht, etwa mit den Pariser Bike- und Carsharing-Systemen, die nicht nur Leihfahrzeuge, sondern auch Stellflächen umfassen. Das städtische Flächenmanagement und seine Finanzierung ist eine wesentliche Stellschraube für die zukünftige Verkehrsentwicklung.

Welche Lösungsansätze für eine umweltverträgliche Mobilität haben Sie in Ihrem Innovationszentrum seit dem Gründungsjahr 2006 entwickelt und wo wurden sie praktisch umgesetzt?
Knie: Im InnoZ entwickeln wir gemeinsam mit zahlreichen Partnern innovative systemische Lösungen im Spannungsfeld von Mobilität und gesellschaftlichem Wandel. Wir vereinen anwendungsorientierte Forschung und Praxis unter einem Dach und verstehen uns als Living Lab für vernetzte Mobilität. Der inhaltliche Schwerpunkt liegt auf der Vernetzung von Verkehr, Energie sowie Informations- und Kommunikationstechnik: auf der „Dreifachvernetzung“. Diese Vernetzung wird in Partnernetzwerken unter Realbedingungen getestet. Das Ziel besteht darin, nachhaltige und auskömmliche Anwendungsfelder für entsprechende Mobilitäts- und Energiedienstleistungen zu entwickeln. Dies betrifft beispielsweise Anwendungen der Elektromobilität im Carsharing, intelligente Energienetze als Teil zukünftiger Stadtentwicklung und die Gewährleistung von Mobilität im ländlichen Raum. Dazu führen wir mit Partnern Pilotprojekte durch und beraten auch Industriepartner. Seit 2010 tun wir dies auf dem EUREF-Campus in Berlin-Schöneberg, einer intelligenten Stadt im Kleinen. Dort testen wir bereits heute das Zusammenspiel all jener Komponenten, die unsere Mobilitätswelt von morgen bestimmen.

Welche Mobilitätsanforderungen kommen auf die Bahnen bis 2050 zu?
Knie: Die Bahnen werden sich auf der Informations- und Angebotsseite weiter vernetzen und breiter aufstellen müssen, wenn sie mit den Anforderungen moderner Mobilität mithalten möchten. Die Herausforderungen sind enorm. Das Durchschnittsalter der deutschen Bevölkerung steigt, während die Anzahl junger Menschen sinkt. Damit verändern sich wesentliche Kundengruppen des öffentlichen Verkehr, etwa die Schüler und Auszubildenden. Gleichzeitg machen immer mehr Frauen den Führerschein und könnten dem öffentlichen Verkehr verloren gehen. Auf diese Trends sollten die öffentlichen Verkehrsunternehmen bereits heute mit neuen Angeboten reagieren. Dann bestehen reelle Chancen, bis 2050 zum zentralen Anbieter einer Produktpalette zur werden, die über das klassische Bahnfahren weit hinausgeht. Dies setzt allerdings voraus, dass sich der öffentliche Verkehr unternehmerisch weiterentwickelt.

Sie vertreten die Auffassung, dass das Elektro-Auto notwendig ist, damit die Menschen mit der Bahn fahren. Wie werden die Rollen zwischen Auto und Bahn in Zukunft verteilt sein?
Knie: Um auf dem neuen Mobilitätsmarkt zu bestehen, wandelt sich auch die Autoindustrie. Autobauer werden zu umfänglichen Mobilitätsdienstleistern. Schon heute gehen Automobilunternehmen im Rahmen flexibler Carsharing-Angebote Kooperationen mit örtlichen Verkehrsunternehmen ein. Umgekehrt bietet etwa die Deutsche Bahn bereits seit 2001 auch „Auto- und Fahrradbausteine“ an. Dabei kommen vermehrt Elektrofahrzeuge zum Einsatz, da begrenzte Reichweiten und höhere Anschaffungskosten in Carsharing-Flotten weniger Probleme bereiten als in privater Hand. Durch intelligente Vernetzung können sich Bahn-Anbieter als Mobilitätsplattformen positionieren  und neue Einnahmequellen erschließen. Nicht nur Automobilunternehmen, sondern auch Bahnunternehmen können Carsharing oder Carpooling als Zusatzgeschäft betreiben.  

Glauben Sie, dass die Menschen wirklich das Auto stehen lassen und auf den öffentlichen Verkehr umsteigen?
Knie: Unsere Forschungsergebnisse zeigen, dass die Umsteige-optionen vom Kunden dann angenommen werden, wenn sie einfach sind und umstandslos zum Alltagshandeln passen. Eine Möglichkeit, nutzerfreundliche Schnittstellen anzubieten, sind Mobilitätskarten mit unterschiedlichen, aber gebündelten Angeboten. Egal, ob der Kunde die Bahn, den Bus, das Carsharing oder ein Leihrad nutzt, der Zugang und die Abrechnung sollten gleichsam „aus einem Guss“ sein. Erzwungene Routinebrüche und unklare Ansprechpartner führen hingegen zu Akzeptanzproblemen. Zentral sind daher dynamische und transparente Informations- bzw. Buchungssysteme, die eine große Bandbreite an Optionen übersichtlich auf einen Blick bieten.

Lassen sich mit Car-Sharing-Modellen mehr Menschen zur Bahn bringen?
Knie: Das kommt darauf an, wie diese Modelle genau beschaffen sind. Moderne Carsharing-Angebot sind immer häufiger intermodal, also verkehrsträgerübergreifend, angelegt. „Auto-Bausteine“ können ein Bahnunternehmen attraktiver machen und sein Angebot in der Fläche erweitern. Die sprichwörtliche „letzte  Meile“ vom Bahnhof zur Haustür ist auf diese Weise überwindbar. Umstiegshürden und „Zwischenräume“ waren für die Bahn bisher ein Wettbewerbsnachteil gegenüber dem Privatauto.
Dies ändert sich nun. Verbunden mit einem Wertewandel, der besonders unter der städtischen Jugend den Nutzen anstelle des Besitzes in den Vordergrund rückt, können hier für den öffentlichen Verkehr neue Zielgruppen erschlossen und bestehende gehalten werden.

Was kann Österreich von Deutschland in Sachen Mobilität lernen?
Knie: An Deutschland lässt sich gerade die Entwicklung intermodaler Angebote sehr gut beobachten: Ausgehend von bestehenden Rabattsystemen, wie etwa der weiter verbreiteten BahnCard, werden für die Kunden neue Leistungspakete geschnürt. So wird die Interoperabilität, also die Fähigkeit zur technischen, aber auch tariflichen und rechtlichen Verknüpfung von Mobilitätsleistungen, praktisch erprobt. Beispielsweise bietet die neue BahnCard 25 mobil plus, die derzeit in Berlin getestet wird, neben vergünstigtem Fernverkehr auch Bike- und Carsharing-Rabatte und optional ein Nahverkehrsticket für Berlin.

Was bedeutet für Sie persönlich Mobilität?

Knie: Mobilität bedeutet für mich, aus dem Haus zu gehen und jederzeit das passende Verkehrsmittel nehmen zu können: ohne langes Nachdenken, ohne Ticketkauf, ohne Orientierungsproblem und ohne eigenes Auto.

Vielen Dank für das Gespräch.

Zur Person

Professor Andreas Knie (Jahrgang 1960) ist Geschäftsführer des InnoZ. Der studierte Sozialwissenschafter und Politologe plädiert für eine Abkehr von einer autonahen Verkehrspolitik und eine Wende zu mehr Flexibilität öffentlicher Mobilitätsangebote. Knie lehnt das Auto nicht gänzlich ab, sondern ist für eine sinnvolle Vernetzung von Auto und ÖPNV beispielsweise in Form von Carsharing, Call-a-Bike etc. Die finanziellen und technischen Hürden der Elektromobilität bieten nach Einschätzung des Experten die Chance, private und öffentliche Verkehrsmittel zu einer urbanen postfossilen Mobilitätsstruktur zu verbinden.

Autor: Josef Müller


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