In einem meiner ersten Jobs als Leiterin einer kleinen Abteilung in der Pharmaindustrie musste ich bei der Einführung eines neuen Produkts auf dem österreichischen Markt in der Konzernzentrale eine Absatzprognose für die ersten fünf Jahre einreichen. Dafür reichte damals ein Excel-Sheet mit einer automatischen Wachstumsformel und schon hatten sich die Planungsdaten von selbst berechnet. Das war selbst in den 1990er-Jahren eine etwas riskante Vorgangsweise. Aber die Wahrscheinlichkeit, bei stabiler wirtschaftlicher Wachstumslage und basierend auf den vorhandenen Daten der deutschen Kollegen eine brauchbare Prognose abzugeben, war damals verhältnismäßig hoch.
Unsicherheit macht Angst
Heutzutage schaffen es noch nicht einmal die besten Prognosealgorithmen, alle möglichen Eventualitäten wie Krisen, Konflikte, Pandemien und sonstige Unwägbarkeiten zu berücksichtigen und Marktentwicklungen verlässlich vorherzusagen. Langfristige Planungen haben bereits etwas von Glaskugel-Lesen an sich, und KI-gestützte datenbasierte Vorhersagen haben derzeit die wenigsten zur Verfügung. Diese Unsicherheit kann vor allem bei Entscheidungen über große Investitionen oder grundlegende strategische Ausrichtungen angsteinflößend sein. Kann man sich auf seine Daten noch verlassen? Oder auf das Bauchgefühl? Auf welcher Basis trifft man in so einem Fall überhaupt Entscheidungen? Da hilft nur noch, an dieses Thema einmal völlig anders heranzugehen. Genau bei derartigen Zwickmühlen bietet die vielzitierte Agilität bzw. der Einsatz agiler Methoden einen Ausweg.
Zahlen – Daten – Fakten
Wir sind darauf trainiert, Entscheidungen und/oder Planungen auf harten Zahlen aus der Vergangenheit zu basieren. Doch in Zeiten, in denen alles variabel zu sein scheint, lässt sich selbst aus harten Fakten zukünftiges Marktverhalten nicht mehr zwingend ablesen. In agilen Prozessen hat man gelernt, dass Ziele regelmäßig an neue Rahmenbedingungen angepasst werden müssen. Das Zauberwort ist in diesem Fall „iterativ“. Wir reden hier von einer Politik der kleinen Schritte. Nach dem Erzielen jedes Teilergebnisses wird ein Faktencheck gemacht und kontrolliert, ob das endgültige Ziel noch passt oder ob es aufgrund neuer Erfahrungen und Daten korrigiert oder womöglich völlig neu definiert werden muss. Erfahrenen agil agierenden Projektmanagern oder Führungskräften ist klar, dass das letztendlich erreichte Ergebnis in den seltensten Fällen mit dem ursprünglich angestrebten Ziel übereinstimmt.
Hypothesenbasierte Prognosen
Doch wie ist das nun mit den Vorhersagen zu zukünftigen Entwicklungen? Hier hat sich das Arbeiten mit Hypothesen bewährt. Wenn man sich bei der Einschätzung von Marktentwicklungen oder Kundenbedürfnissen, sogar von Supply Chains oder von gesellschaftspolitischen Rahmenbedingungen bei der strategischen Planung nicht mehr sicher sein kann, dann stellt man – am besten basierend auf dem reichen kollektiven Erfahrungsschatz eines ganzen Teams – zusammen mehrere möglichst realistische Hypothesen bzw. Szenarien auf, wie sich die Zukunft entwickeln könnte. Agilität ist nämlich ein empirischer Prozess. Empirie ist „Erfahrungswissen“. Das heißt, dass man ganz praktisch gesehen die einmal erstellten Hypothesen aufgrund der Reaktion und des Feedbacks von Betroffenen immer wieder aufs Neue anpasst. Gute Hypothesen müssen sich bewähren. Hypothesen, die nicht mehr passen, werden wieder verworfen. Dieses iterative Prinzip funktioniert sowohl bei der Produktplanung als auch bei der Strategieentwicklung und letztendlich auch bei der Planung von Unternehmenszielen: Hypothesen aufstellen, hypothesenbasiert planen, ausprobieren, Erfahrungen sammeln, neu anpassen. Und das immer und immer wieder. Das erfordert von den Führungskräften allerdings ein hohes Maß an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und vor allem Selbstreflexion. Denn es geht in diesem Fall nicht darum, die eigenen Hypothesen zu beweisen, sondern zu sehen, ob und wodurch sich einmal aufgestellte Hypothesen widerlegen lassen.